„Ach, du lebst vegan?“ – Glanzlichter der Reaktionen auf pflanzliche Ernährung
#4: "Und warum isst du Pflanzen? Die haben doch auch Gefühle!"
Okay, jetzt wird es anstrengend, dachte ich mir. Zwar hatte
ich das Thema "Meine Gründe für vegane Ernährung" beim Essen nicht einmal angesprochen. Es wurde mir einfach beim Seitenblick auf meinen
Teller als Beilage aufgedrängt. Mein Tischnachbar, mit dem ich mich bis zu diesem Moment noch gar nicht unterhalten hatte, unterfüttert sein vermeintliches Argument gegen vegane Ernährung wie folgt: Schließlich gäbe es Pflanzen, die bei Waldbränden Stoffe abgäben, mit denen sie
andere Pflanzen warnten, die dann auf die Warnung reagierten und sich vor dem
Feuer schützten. Ich erwiderte, dass es etwas viel hineininterpretiert wäre, diesen Vorgang als Empathie und Sozialverhalten unter Pflanzen zu
interpretieren. Schließlich sei es wahrscheinlicher, dass die
von der Pflanze ausgestoßenen Stoffe, den Pflanzen, die darauf zu reagieren in
der Lage waren, schlicht einen evolutionären Vorteil verschafften, und dass es
durchaus unwillkürliche Gründe geben mag, weshalb eine Pflanze bei Temperaturänderungen
Stoffe ausscheiden könnte. Daraufhin erfolgte unmittelbar der emotionale Ausbruch: Ich könne so nicht argumentieren und ich würde unsachlich und ganz willkürlich entscheiden, welches Lebewesen fühle und daher nicht gegessen werden dürfe.
Manchmal überrascht es mich, zu welchen Gefühlsausbrüchen die pure Anwesenheit eines Veganers führen kann. Nur manchmal allerdings!
Lieber Tischnachbar, weder habe ich behauptet, die
Entscheidungsinstanz zu sein, welche Lebewesen gegessen werden dürfen und welche
nicht. Ich habe lediglich für mich entschieden, dass kein Tier für meine Ernährung
sterben muss. Zweitens habe ich weder dich noch dein Putenschnitzel angegriffen, und drittens hatte ich meinen Mund eigentlich nur aufgemacht, um den nächsten leblosen Brokkolo mit meinen Zähnen zu zermalen. Es kommt mir ein
wenig so vor, als hättest du einen ewig alten Veganer-Bekämpfungs-Diskussionsfaden
aus dem Internet in deinem Gehirn aktiviert und ihn zu einem Präventivschlag instrumentalisiert. Man weiß ja nie, wann der Veganer mit der moralischen Keule ausholt. Besser gleich drauf!
Ja, es gibt Studien, die sich mit Reaktionen und Interaktionen von
Pflanzen befassen. Sie haben vor allem eins gemein: 1) In den seriösen Studien ist keine Rede von Gefühlen 2) In den Medien, die über diese Studien berichten,
wird ausdrücklich von Pflanzengefühlen geschrieben und die Head-Lines lauten: "Schock-Nachricht für Veganer!", "Veganer aufgepasst: Pflanzen wollen nicht gefressen werden!" bis hin zu "Bäume und Gemüse leben in Todesangst!". "Pflanze produziert Abwehrstoff gegen Raupen" ist vermutlich auch nicht polarisierend genug, um Auflage zu schaffen.
Ja, es gibt Pflanzen, die, sobald sie angeknabbert werden,
Abwehrsubstanzen produzieren. Bei manchen Bäumen führt die Produktion der chemischen Substanz sogar dazu, dass andere Bäume den Stoff ebenfalls zu produzieren
beginnen. Es gibt Pflanzen, die sich zusammenfalten, als seien sie welk, sobald
sie berührt werden. Es gibt Pflanzen, die ihren Nährstoffgehalt herabsetzen, sodass
Fressfeinde nicht satt werden und von ihnen ablassen. Pflanzen haben viele
Mechanismen entwickelt, die ihr Überleben sichern. Aber es sind Mechanismen und
nicht Zeugnisse von Bewusstsein. Mechanismen, die sich durchgesetzt haben, weil
sie diesen Pflanzen einen evolutionären Vorteil gegenüber jenen Pflanzen
verschafften, die sich nicht auf diese Weise vor Fressfeinden schützen konnten.
Es ist kein Ausdruck von Bewusstsein und auch kein Gefühl, denn zu einem
Bewusstsein gehört die Macht der freien Entscheidung. Die Pflanze wird immer
mit Abwehrsubstanzen reagieren, sich immer zusammenfalten und immer ihren Nährstoffgehalt herabsetzen, wenn der Fressfeind da ist. Ein Bewusstsein wäre
zu anderen Entscheidungen in der Lage: „Oh, das ist ja nur ein kleiner Käfer,
den lasse ich jetzt mal knabbern“ oder „Hey, wieder diese widerliche Raupe von gestern. Die kriegt
jetzt mal die doppelte Menge Abwehrstoffe ab. Dann weiß sie, was sie davon hat!“.
Aber … selbst wenn Pflanzen genau wie Tiere ein Bewusstsein
hätten, fühlten und ganz tolle grüne Kumpels sein könnten, wenn wir nur
miteinander zu kommunizieren in der Lage wären, wäre dieser Umstand doch kein
Grund für mich Tiere, deren Bewusstsein, Gefühle und Kumpeldasein ich dahingegen wahrnehmen kann, wieder zu essen zu beginnen.
„Ha, ha, Veganer, Pflanzen können fühlen! Ihr müsst jetzt
wieder Tiere essen, weil eure ganze Argumentation nun im Eimer ist!“
Eben nicht! Wenn ich die Wahl habe, verschmähe ich doch
lieber die Lebewesens, deren Fühlen ich emphatisch registrieren
kann. Das kann ich bei einer Pflanze nicht. Die Gefühle von Schweinen im
Schlachthof kann ich ebenso wahrnehmen wie die von Tieren in engen
Käfigen. Aber vielleicht lassen sich Chicken Nuggets vom Aldi einfach mit mehr
Genuss essen, wenn man sich sicher glaubt, dass auch Pflanzen fühlen. Nun, dann:
Buon appetito!